Psychiaterin und Krimiautorin Esther Pauchard: „In der Psychiatrie haben wir es oft mit extremen Geschichten zu tun, mit starken Emotionen“
Esther Pauchard ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Krimi- und Sachbuchautorin. Mit der Psychiaterin Kassandra Bergen und der Praxisassistentin Melissa Braun hat sie zwei Laienermittlerinnen kreiert, die im Gesundheitswesen arbeiten, in diesem Umfeld auch ihre Fälle lösen und dabei oft in heikle Situation geraten. Im Interview mit Medical Murder Mystery spricht die Schweizer Autorin über die Affinität zwischen Psychiatrie und Krimi, die Parallelen zwischen Erdachtem und richtigem Leben, was sich durch das Schreiben in ihrer therapeutischen Arbeit verändert hat, wie sie ihre Plots entwickelt und ihre Botschaften in unterhaltsame Geschichten verpackt und wie das Sachbuchschreiben sich vom Krimischreiben unterscheidet.
Zur Person: Dr. Esther Pauchard
Esther Pauchard ist Jahrgang1973, stammt aus Bern und studierte an der Universität Bern Medizin. 2006 schloss sie ihre Facharztausbildung in Psychiatrie und Psychotherapie ab, war danach viele Jahre ärztliche Leiterin einer überregionalen Suchtfachklinik und arbeitete anschließend bis Mitte 2023 als leitende Ärztin an einer ambulanten Suchtfachstelle. Parallel zur ärztlichen Tätigkeit ist sie als Supervisorin und Ausbildnerin tätig. 2010 veröffentlichte Esther Pauchard ihren ersten Krimi, es folgten alle zwei Jahre weitere Bände rund um die Psychiaterin Kassandra Bergen sowie zwei Bücher mit der Ordinationsassistentin und Laienermittlerin Melissa Braun. Zuletzt erschien das Sachbuch „Jenseits der Sprechstunde“. Esther Pauchard lebt mit ihrem Mann, einem Hausarzt, und zwei Töchtern in Thun. Krimis: Jenseits der Couch (2010), Jenseits der Mauern (2012), Jenseits der Rache (2014), Jenseits der Praxis (2016), Jenseits der Macht (2018), Jenseits des Zweifels (2020), Jenseits der Gier (2022)
Medical Murder Mystery: Was war für Sie der Auslöser, als viel beschäftigte Ärztin Krimis zu schreiben?
Esther Pauchard: Als ich mein erstes Buch geschrieben habe, wusste ich noch nicht, dass es veröffentlicht wird. Es war ursprünglich einfach ein Versuch, mich einmal anders auszudrücken. Deshalb bin ich auch sehr unbeschwert an die Sache herangegangen. Was mich motiviert hat: Ich war Anfang 30, ich hatte beruflich schon einiges erreicht, hatte eine Führungsposition, und in der Situation wollte ich mich einfach einmal neu ausprobieren, wollte wieder einmal in einem Bereich Anfängerin sein.
MMM: Sie sind nicht die erste Psychiaterin, die wir hier im Blog als Krimiautorin vorstellen. Andere ärztliche Fachrichtungen scheinen weniger in der Spannungsliteratur vertreten zu sein. Gibt es denn eine besondere Affinität zwischen Psychiatrie und Krimi?
Esther Pauchard: Ich denke schon. Einerseits sind wir in der Psychiatrie vielleicht mehr als andere Fächer auch immer wieder mit rechtlichen Aspekten befasst. Aber vor allem haben wir es in der Psychiatrie mit Geschichten zu tun, häufig mit extremen Geschichten, die starke Emotionen involvieren und oft auch die Frage, welchen Weg man zwischen „gut“ und „böse“ wählt. Damit sind wir auch ganz nahe dran an den Menschen, mit ihrer Herkunft, mit allem, was sie erlebt haben. Wir haben auch mehr Zeit für Gespräche als andere medizinische Disziplinen.
MMM: Die thematischen Impulse für Ihre Bücher kommen wohl aus dem medizinischen Arbeitsumfeld. Wie gehen Sie vor, um aus einem Impuls einen konkreten Plot zu entwickeln?
Esther Pauchard: Da muss ich einen wichtigen Punkt vorausschicken: Der Ort, an dem ich die wenigste Inspiration für meine Geschichten bekomme, ist die Arbeit. Ich würde niemals, auch nicht in verfremdeter Form, eine Geschichte einer oder eines meiner Patientinnen und Patienten aufgreifen. Das wäre unmöglich für das Vertrauensverhältnis. Das Drumherum, der Alltag, die Haltung einer Ärztin, das ganze Umfeld, da bediene ich mich natürlich sehr wohl an meiner klinischen Erfahrung. Wenn ich weiß, ich will wieder einen neuen Krimi schreiben, trete ich in etwas ein, das ich gerne die Schwammphase nenne. Ich öffne mich und warte, was kommt. Ich lese Zeitung, ich höre ein Gespräch mit, ich tausche mich mit jemandem aus und es kommt das eine oder andere Element zu mir, das sich in eine Idee einfügt. Dann recherchiere ich, entwickle mit den zusätzlichen Informationen einen Plan, der immer konkreter wird. Also, Patienten sind absolut sicher. Anders ist das bei Angehörigen und Freunden, die können schon in einer Geschichte auftauchen.
MMM: Es fällt auf, dass Kassandras Mann wie ihrer Hausarzt ist, dass Kassandra wie Sie zwei Töchter hat. Was sagt denn Ihre Familie zu den Parallelen?
Esther Pauchard: Die finden das gut, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich schaue immer darauf, dass die Figuren, die starke Ähnlichkeiten mit lebenden Personen haben, regelrechte Lichtgestalten sind. Und es ist immer eine Mischung aus etwas Wahrheit und Ausgedachtem, aber die Leserinnen und Leser wissen nicht, was wahr ist. Die Bösewichte sind immer frei erfunden, auch wenn man mir das nicht immer glaubt.
MMM: Gehören Sie eigentlich zu den Autorinnen, die vor dem Schreiben einen genauen Ablaufplan haben, oder entwickelt sich bei Ihnen die Geschichte während der Arbeit daran?
Esther Pauchard: Ersteres. Ich bin zu einem gewissen Maß ein Kontrollfreak. Und für eine spannende und schlüssige Krimihandlung ist für mich die Konstruktion wichtig: Was passiert wann, welche Figur kommt zu welchem Zeitpunkt ins Spiel. Ich habe immer schon ein sehr ausführliches Exposé, bevor ich die erste Zeile des Krimis schreibe.
MMM: Man merkt Ihren Krimis an vielen Details an – wie läuft eine Oberärzte-Sitzung ab, wie gestaltet sich ein Nachtdienst, was will die Versicherung von der Ärztin – wie Sie den ärztlichen Alltag im Krimi verwerten. Gibt es auch eine umgekehrte Rückkoppelung? Beeinflusst Ihre Arbeit als Autorin auch Ihre Arbeit als Psychiaterin?
Esther Pauchard: Neu und ungewohnt war nach der Veröffentlichung der ersten Bücher, dass meine Patientinnen und Patienten jetzt viel mehr über mich wissen. Als Psychiaterin neigt man dazu, sich im Hintergrund zu halten, nicht zu viel von sich zu erzählen. Das ist als Autorin nicht möglich, durch Lesungen, Auftritte, Interviews wissen Patientinnen und Patienten sehr viel mehr über mich, aber in einer anderen Rolle als jener der Psychiaterin. Das alles war zu Beginn sehr gewöhnungsbedürftig für mich. Auch, dass das Gewicht des gesprochenen und geschriebenen Wortes sich so unterscheiden. Ein neuer Gedanke, der sich für mich aus den Erfahrungen entwickelt hat, ist es, Geschichten als therapeutisches Agens einzusetzen.
MMM: Wenn Patientinnen und Patienten Sie in dieser anderen, öffentlichen Rolle erleben können, hat das eine Auswirkung auf die therapeutische Beziehung?
Esther Pauchard: In vielen Fällen gar nicht, denke ich. Und dort, wo es einen Einfluss hat, ist dieser hauptsächlich positiv. Denn es gibt den Betroffenen das Gefühl, da ist der Mensch hinter der Ärztin spürbar, das finde ich gut, weil ich gar nicht für die absolute therapeutische Abstinenz bin. Es gibt ganz wenige Personen, die dazu neigen würden, ihre Rolle gegenüber der Psychiaterin falsch zu verstehen, aber das muss man dann eben in der Therapie thematisieren. Grundsätzlich sehe ich mehr positive Folgen.
MMM: Sie haben das mögliche therapeutische Potenzial des Geschichteneerzählens angesprochen. Setzen Sie das auch gezielt ein?
Esther Pauchard: Auf jeden Fall. Es ist einerseits das Schreiben an sich, das hilfreich sein kann. Das passt natürlich zeitlich nicht in die Sitzungen, aber das kann man dazwischen einsetzen. Unter anderem auch, wenn Menschen sich zu Emotionen besser schriftlich ausdrücken können als sich im unmittelbaren Gespräch zu artikulieren. Aber es geht auch um die Geschichte an sich. Wenn eine Person zum Beispiel gerade eine sehr tragische Geschichte erlebt, dann kann es sehr helfen, daraus fiktiv eine Tragikomödie zu machen, eine Abenteuergeschichte oder auch einen Krimi – dann das erlaubt für diese Person einen Perspektivenwechsel, von oben auf das Geschehen zu schauen, statt mitten drin zu sein. Damit sind wir dann auf einer Metaebene, die wir Psychiater so lieben.
MMM: Dieses gezielte Einsetzen von Geschichtenerzählen ist sehr spannend. Gibt es noch andere Einflüsse dieser literarischen Welt auf die Medizinwelt?
Esther Pauchard: Ich habe aus dem Umgang mit dem gesamten Kulturbetrieb sehr viel gelernt, auch viele spannende Menschen kennengelernt. Wir sind sonst immer unter uns – Ärztinnen, Psychologen, Pflegepersonen. Jetzt habe ich mit Menschen zu tun, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Das ist großartig. Das erweitert für die Autorin, für die Psychiaterin und für den Menschen den Horizont.
MMM: Wenn man sich viel mit Medizinkrimis beschäftigt, liest man viele tolle Geschichten, aber es ist immer wieder einmal auch enttäuschend, dass die Medizin sehr klischeehaft gesehen wird. Polizisten oder Gerichtsmediziner erzählen immer wieder, dass es sie stört, wenn in Krimis ihre Arbeit völlig falsch und klischiert dargestellt ist. Geht es Ihnen beim Lesen von Medizinkrimis eigentlich auch so?
Esther Pauchard: Psychiater werden ja oft grauenhaft dargestellt. Bei manchen Filmen oder Krimis tut mir die Art, wie Psychiater und psychiatrische Kliniken dargestellt werden, richtig weh. Das ist dieses alte Bild, da wird nicht zur Kenntnis genommen, wie sehr sich die Psychiatrie verändert hat. Es wird auch gern mit bestimmten Erkrankungen wie der multiplen Persönlichkeitsstörung gearbeitet, die kommt so häufig vor, das istüberdimensioniert gegenüber der Realität.
WWW: Lesen Sie überhaupt gerne Medizinkrimis?
Esther Pauchard: In letzter Zeit lese ich insgesamt weniger Krimis. Was den Medizinkrimi angeht, habe ich natürlich gerne die Krimis von Paul Wittwer gelesen wie „Eiger, Mord und Jungfrau“ oder „Giftnapf“. Aber sonst suche ich das Medical Murder Mystery gar nicht so sehr, das ist zu nahe dran an der Arbeit.
WWW: Bei aller Detailtreue, was den Medizinbetrieb betrifft, braucht es für einen guten Krimi natürlich eine Balance zwischen Realitätsnähe und künstlerischer Gestaltung. Wie gehen sie mit dieser Balance um?
Esther Pauchard: Die Schilderungen der Abläufe, der Umgangston im Spital, das sind Dinge, sie schon sehr realitätsnahe gehalten sind in meinen Büchern – jedenfalls nahe an der Realität, als ich noch in solchen Funktionen tätig war. Aber natürlich ist immer alles durch meine sehr subjektive Perspektive gefiltert.
WWW: So ganz nebenbei scheint auch immer in Ihren Geschichten einige Kritik am Gesundheitswesen mitzuschwingen. Ist das eine bewusste Entscheidung, wollen Sie auch diesbezüglich Botschaften vermitteln?
Esther Pauchard: Ja durchaus, und zwar zunehmend. Bei meinen ersten Büchern ging es mir auch stark darum, ein Verständnis für die Psychiatrie zu entwickeln, für Krankheitsbilder. In den letzten ist es mir auch wichtiger geworden, Defizite im Gesundheitssystem zu zeigen, zum Beispiel in „Jenseits des Zweifels“. In den Krimis ist das ein wenig mit eingepackt, aber weil mir diese Probleme so unter den Nägeln brennen, habe ich zuletzt auch ein Sachbuch dazu geschrieben, „Jenseits der Sprechstunde – das Rezept sind Sie!“. Da spreche ich die massive Krise des Gesundheitswesens noch klarer an und möchte etwas zur Verbesserung der Versorgungslücke beitragen.
WWW: Apropos verpackte Botschaften. Ging es Ihnen dabei neben der Sensibilisierung für das Gesundheitswesen auch darum, Verständnis für psychiatrische Erkrankungen und für Erkrankte zu schaffen? Ich finde zum Beispiel, es wird die Vulnerabilität Betroffener sehr deutlich, im Gegensatz zum Klischee ihrer Gefährlichkeit.
Esther Pauchard: Ich hoffe, ich konnte da auch etwas bewirken. Einmal kam bei einer Lesung eine Dame zu mir und hat mir gesagt, sie würde jetzt endlich verstehen, was für eine Krankheit Schizophrenie ist. Auch, dass ich durch die Stimme in der Öffentlichkeit, die ich mit meinen Büchern habe, etwas zu einem anderen Bild von Psychiaterinnen und Psychiatrie beitragen konnte. Da habe ich viele positive Rückmeldungen bekommen.
WWW: Als Krimiautorin muss man die Entscheidung zwischen professionellen und Laienermittlern treffen. Wie haben Sie die Entscheidung getroffen?
Esther Pauchard: Für mich war immer klar, dass ich die Ich-Perspektive wählen will, und dass das eine Ärztin sein muss. Und damit ging einher, das ist eine Laienermittlerin, die in Situationen stolpert, in denen sie nicht souverän ist. Das finde ich auch sehr spannend, dass sie sich immer wieder in neue Gebiete vorwagen muss, raus aus der Komfortzone kommen muss. Es hat natürlich auch seine Tücken, wenn das eine Serie wird, Situationen zu finden, in die sie realistischerweise geraten kann. Da kann man an Grenzen kommen. Nicht nur, was solche Situationen betrifft, sondern auch was Mordmethoden, Motive und anderes betrifft.
Medical Murder Mystery: Apropos Serie – es gab eine Reihe von Büchern mit Kassandra Bergen, dann kam Melissa Braun, dann ist Kassandra wiedergekehrt. Warum?
Esther Pauchard: In gewisser Weise habe ich mir selbst ein Ei gelegt mit dieser Protagonistin, die so nahe an mir dran ist. Da kamen dann so oft Fragen nach den Parallelen zwischen mir und ihr, dass ich es irgendwann satt hatte und eine andere Heldin erfunden habe. Aber Kassandra drängte sich dann wieder rein, im vierten Buch in einem Kapitel, im fünften kommt sie im hinteren Drittel vor. Also plötzlich stand die wieder da, die hat wirklich ein gewisses Eigenleben. Ich habe aber auch gemerkt, dass Kassandra in ihrer Rolle als Psychiaterin mir erzählerisch mehr dient als die „normale“ junge Frau Melissa, die weniger Profil hat, die auch weniger polarisiert. Ich kann die Geschichten besser aufbauen um Kassandra und habe mich jetzt mit den Ähnlichkeiten und Fragen arrangiert. Jetzt bin ich angekommen.
MMM: Wir dürfen uns also auf weitere Kassandras freuen?
Esther Pauchard: Ich denke ja, aber ich weiß es noch nicht. Ich habe jetzt mit der Veröffentlichung meines aktuellen Sachbuchs meinen eigenen Rhythmus durchbrochen. Irgendwann gehe ich wieder in die Schwammphase, dann wird sich das alles klären.
MMM: Sie haben Ihr Sachbuch „Jenseits der Sprechstunde“ erwähnt, Ihr erstes Sachbuch. Wie unterschiedlich war das Arbeiten daran im Vergleich zum Krimischreiben?
Esther Pauchard: An sich war das Arbeiten einfacher. Ich habe nach Außen getragen, was ich immer schon denke, sage, meine Haltung, meine therapeutischen Techniken. Das Schreiben ging schneller, aber es hat mich auf gewisse Weise auch mehr Mut gekostet. Ich verschwinde nicht hinter der Fiktion, ich beschreibe mich selbst, ich bin präsenter. Und ich beschreite wieder einmal neu die Abenteuerzone, verlasse meine Komfortzone. Das ist jetzt wieder völliges Neufeld, das mir schon auch ein bisschen Angst macht, aber auch so spannend ist.
Interview: Birgit Kofler