Hörbuch: Der Verdacht von Friedrich Dürrenmatt
Er ist ein großer Klassiker des Kriminalromans, und ein Medizinkrimi ist er in mehrfacher Hinsicht: Der Ermittler liegt mit einer schweren Krebserkrankung im Spital und geht hier einem Verdacht nach, den sein behandelnder Arzt äußert, zudem ist auch der Verdächtige Arzt. Die Rede ist von „Der Verdacht“, den Friedrich Dürrenmatt Anfang der 1950er Jahre verfasst und zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift „Der Schweizer Beobachter“ veröffentlicht hat. Hier empfehle ich ihn in der Hörbuch-Version, die Hans Korte für Diogenes eingelesen hat.
Kommissär Hans Bärlach, der Polizist, den Dürrenmatt bereits in „Der Richter und sein Henker“ einführt, wird in einem Krankenhaus in Bern wegen seiner Krebserkrankung stationär behandelt. Die Geschichte spielt im Jahr 1948, die Nürnberger Ärzteprozesse, die unfassbare durch Medizinerinnen und Mediziner begangene Grausamkeiten ans Licht gebracht haben, sind erst ein Jahr zuvor zu Ende gegangen.
War der Zürcher Nobelmediziner früher KZ-Arzt?
Bärlach blättert einer Ausgabe der Zeitschrift „Life“ und stößt auf einen Artikel über einen gewissen Dr. Nehle, einen sadistischen SS-Mediziner, der im Konzentrationslager Stutthof Experimente an Gefangenen durchgeführt und insbesondere Menschen ohne Narkose operiert hat. Bärlachs Freund und behandelnder Arzt Samuel Hungertobel ist schockiert, als er das Bild sieht. Denn der Mann auf dem Foto kommt ihm, obwohl mit Mund-Nasenschutz abgebildet, äußerst bekannt vor. Handelt es sich hier nicht um seinen Studienkollegen und späteren Stellvertreter Fritz Emmenberger, der heute eine noble Zürcher Privatklinik leitet? Aber wie wäre das möglich? Schließlich soll Nehle nach der Kapitulation Suizid begangen haben, und Emmenberger war zwischen 1932 und 1945 in Chile und hat von dort unter anderem Beiträge in medizinischen Fachzeitschriften geschrieben.
Obwohl Bärlach durch seine schwere Erkrankung geschwächt und in seinem Aktionsradius eingeschränkt ist, geht er dem Verdacht Hungertobels nach. Ist der vermeintliche Dr. Emmenberger tasächlich etwa der tot geglaubte Nehle? Oder gibt es einen Doppelgänger des grausamen Nazi-Arztes? Wer war in Chile, und wer in Stutthof?
Bärlach studiert Emmenbergers Publikationen, befragt seinen Freund Gulliver, einen jüdischen Shoah-Überlebenden, der unter anderem auch im KZ Stutthof gequält worden war, und bringt sich in Gefahr, als er sich unter falschem Namen in Emmenbergers Privatklinik als Patient aufnehmen lässt.
Suche nach Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit
Die Suche nach der komplexen Wahrheit, die letztlich darauf abzielt, Gerechtigkeit herzustellen, nutzt Dürrenmatt auch als einen Rahmen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Voraussetzungen Gräuel wie jene, die im nationalsozialistischen Unrechtsregime begangen wurden, überhaupt möglich machen. „Was in Deutschland geschah, geschieht in jedem Land, wenn gewisse Bedingungen eintreten“, sagt Bärlach an einer Stelle.
Das Werk ist viel mehr als ein spannender, atmosphärisch dichter Kriminalroman mit Verbrechen, Ermittlung und Auflösung. Er ist eine philosophische Auseinandersetzung mit Fragen der Schuld, Gerechtigkeit und Sühne, der Freiheit als Rechtfertigung für Verbrechen sowie der Legitimität von Rechtsvorschriften eines Unrechtsstaates.
Der Roman spielt an nur zwei Schauplätzen, fast wie ein Kammerstück ist er inszeniert. Der Ortswechsel in der Mitte der Geschichte markiert den Start des bedrohlich-dichten zweiten Teils. Eine besondere Stärke des Werks liegt in beiden Teilen in den oft sehr langen Dialogen.
Hervorrgende Hörbuch-Version
Die Interpretation durch den großen Schauspieler Hans Korte, der für Diogenes auch Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“ und „Das Versprechen“ eingelesen hat, unterstreicht den oft fast lapidaren Erzählton und die sich aufbauende Spannung, inszeniert das Grauen und die Angst in packender Weise, zieht in die Dialoge geradezu hinein – eine Idealbesetzung für die Audioversion dieses starken Romans.
Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht. Diogenes Hörbuch mit Hans Korte, 2008. ISBN-13: 978-3257802122; Friedrich Dürrenmatt. Der Verdacht. Diogenes Taschenbuch, 1986. ISBN-13: 978-3-257-21436-9
Zum Autor: Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen „Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“, „Die Panne“ und „Das Versprechen“, berühmt mit den Theaterstücken „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit „Das Stoffe-Projekt“, in dem er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.