Forensische Palynologin Martina Weber: „Pollen ist überall und daher ein großartiges Indiz“

Porträt von Botanikerin Martina Weber

Univ.-Prof. Dr. Martina Weber ist nicht nur in Österreich, sondern auch international eine der wenigen Spezialistinnen auf dem Gebiet der „Forensischen Palynologie“ – der Analyse des Pollens und der Sporen von Pflanzen zum Zweck der Verbrechensaufklärung. Im Gespräch mit „Medical Murder Mystery“ beschreibt sie, wie ihr Fachgebiet zur Strafverfolgung von Mord oder Betrug beiträgt, wie selbst bei „Cold Cases“ Pollenanalytik zweckmäßig sein kann und welche verräterischen Pollenspuren jede und jeder von uns mit sich herumträgt.

Zur Person: Mag. Dr. Martina Weber ist ao. Universitätsprofessorin i.R., und weiter als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für strukturelle und funktionelle Botanik der Universität Wien tätig. Sie promovierte und habilitierte sich im Fach Botanik und baute ab 2006 gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Mag. Dr. Silvia Ulrich die Forensische Palynologie in Österreich auf. 1997 war sie Initiatorin und Mitentwicklerin der weltweit umfangreichsten Pollendatenbank „PalDat“ (www.paldat.org). Neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen hat die Expertin insbesondere auch durch ihre Mitwirkung an der Aufklärung von aktuellen Verbrechen sowie an Cold-Case-Ermittlungen Bekanntheit erlangt.

MMM: Den meisten von uns ist Pollen vor allem als Allergieauslöser ein Begriff. Viel weniger Menschen wissen, dass Pollenspuren auch bei der Aufklärung von Verbrechen helfen können. Wie funktioniert das?

Martina Weber: Pollen ist in mehrerer Hinsicht ein ausgezeichnetes Tool für die Forensik: Das eine ist, dass Pollen überall ist. In dem Raum, in dem wir uns unterhalten, wird es etwa bei den Türen eine andere Pollenzusammensetzung geben als hier am Tisch. Wenn wir sie analysieren, können wir erkennen, dass es sich um Material aus einem Raum handelt, aber die unterschiedlichen Bereiche des Raumes wären anhand der unterschiedlichen Pollenansammlungen abgrenzbar. Dazu kommt: Wir können von überall Pollen zur Analyse einsammeln, aus Bodenproben, aus Staubproben, bei Leichen aus Haarproben oder aus den Nasenhöhlen zum Beispiel. Was uns an den Pollenkörnern am meisten interessiert, ist die Pollenwand, denn sie ist einzigartig. Sie ist extrem stabil, daher bleiben Pollenkörner in der Regel sehr lange erhalten, wenn sie nicht von Bakterien oder Bodenpilzen aufgefressen werden. Anhand dieser Pollenwand können wir vom Pollenkorn auf Pflanzengruppen schließen und von Pflanzengruppen auf eine bestimmte Vegetation. Wenn zum Beispiel ein Verdächtiger behauptet, nicht am Tatort gewesen zu sein, können wir seine Schuhe und Bodenproben vom Tatort bezüglich der Pollentypen und -zusammensetzung analysieren – und so sehr zuverlässig feststellen, ob der Schuh am Tatort war. Ob der Verdächtige den Schuh getragen hat, ist Sache der Polizei.

MMM: Könnte der mutmaßliche Täter, um bei dem Beispiel zu bleiben, nicht einfach seine Schuhe abwaschen, um das zu vermeiden?

Martina Weber: Das hilft wenig bis überhaupt nicht, Pollen wird man einfach nicht los. Es wird immer Stellen geben, wo noch Pollenkörner zu finden sind. Gerade diese Widerstandsfähigkeit und Hartnäckigkeit macht den Pollen forensisch so interessant. Und weil Pollen so extrem klein ist, merkt man gar nicht, dass man ihn mit sich trägt. Nicht einmal mehrfach waschen hilft. Wir haben im Rahmen einer Diplomarbeit einmal untersucht, wie verschiedene Gewebstypen, die exponiert waren, Pollenspuren beim Waschen verlieren. Es hat sich gezeigt, dass selbst nach zehnmaligem Waschen noch immer genügend Pollen zur Analyse vorhanden waren, und auch noch alle Pollentypen.

MMM: Sie können also, wenn Sie die Polizei unterstützen, viel länger etwas nachweisen als das mit anderen forensischen Methoden möglich ist?

Martina Weber: Genau, das ist von Interesse. Pollen ist der Entstehungsort und der Transportbehälter für das männliche Erbgut der Blütenpflanzen. Den Schutz gewährleistet die Pollenwand. Das garantiert den sicheren Transport zum weiblichen Teil der Blüte. Das kann mit dem Wind erfolgen, wie zum Beispiel bei Gräsern oder Birken, derartigen Pollen findet man nahezu überall. Die zweite Transportstrategie ist, dass der Pollen in der Blüte bleibt und durch Bestäuber aktiv weggetragen wird, durch Bienen, Vögel oder die Gärtnerin. Tauchen solche Pollenkörner in einer forensischen Probe auf, ist das von hoher Relevanz, weil es uns zeigt, dass der Gegenstand oder die Person mit der Pflanze direkt Kontakt hatte oder der Pflanze zumindest sehr nahegekommen sein muss.

WWW: Es könnte also in sehr vielen Kriminalfällen aus den Pollenanalysen wichtige Hinweise geben. Jetzt sind Sie aber eine der ganz wenigen Expertinnen auf diesem Gebiet – warum ist diese Expertise nicht weiter verbreitet, wenn sie für die Polizei so nützlich sein kann?

Martina Weber: Es ist im Fachgebiet der Botanik sicher nicht jedermanns Sache, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, zu Leichenfunden zu gehen, bei Hausdurchsuchungen dabei zu sein. Zudem gibt es bei uns in Österreich keine forensische Institution, an der man diese Expertise lernen könnte. Eine Grundvoraussetzung ist, eine große Erfahrung mit und eine eingehende Kenntnis des Pollens, das benötigt eine sehr profunde Ausbildung. Leider gibt es in ganz Europa immer weniger palynologische Zentren.

WWW: Warum denn das, wenn es so sinnvoll für die Strafverfolgung ist?

Martina Weber: Das ist nur ein kleiner Aspekt der Arbeit. Offenbar ist die Palynologie generell ein Spezialgebiet, das den Universitäten nicht ausreichend Drittmittel einbringt, also will man sich diesen „Luxus“ nicht leisten. Die gesellschaftliche Relevanz wird da nicht unbedingt gesehen. Und wenn man die Palynologie an keinem Zentrum lernen kann, gibt es auch keinen professionellen Nachwuchs. Das ist schade, nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass der erste Fall, der mit Mitteln der Forensischen Palynologie gelöst wurde, in Österreich stattgefunden hat.

WWW: Wann war das?

Martina Weber: Wir sprechen hier vom Jahr 1959. Es ging um den Fall eines vermissten Mannes. Ein Bekannter, bei dem man einen Revolver fand, wurde verdächtigt, den Vermissten auf einem Spaziergang getötet zu haben. Schließlich gab er den Tod des Freundes zu, erklärte diesen allerdings mit einem Unfall, der Schuss habe sich ungewollt gelöst. Ob diese Version stimmte, wäre anhand der Leiche feststellbar gewesen – doch der Verdächtige führte die Polizei bezüglich des Tatorts in die Irre, um den Fund der Leiche zu vermeiden, das zog sich über fast ein Jahr hin. Die Wende brachte Univ.-Prof. Wilhelm Klaus, bei dem ich studiert habe, damals Professor für Paläobotanik an der Universität Wien. Er untersuchte die Schuhe und Kleidung des Verdächtigen und fand eine Reihe von Pollenkörnern, die typisch für eine Au-Vegetation waren. Dazu kam ein fossiles Pollenkorn der Hickory-Nuss, die vor 50 Millionen Jahren bei uns verbreitet war. Prof. Klaus wusste als gelernter Geologe, dass es entlang des vermuteten Spazierwegs der beiden Freunde nur eine Stelle gab, wo solche fossilen Körner vorkamen – und das war bei Spillern, 20 Kilometer nördwestlichlich von Wien. Er fuhr nach Spillern, holte sich Vergleichsmaterial und war sich nach der Analyse sicher, dass der Verdächtige dort gewesen sein musste.  Der war wiederum so überrumpelt, als man ihn damit konfrontierte, dass er gestand und die Polizei zum Fundort der Leiche führte.

MMM: Wie kamen eigentlich Sie zu dieser Spezialexpertise?

Martina Weber: Ich war auf einem internationalen Kongress, bei dem die wenigen Spezialisten der Forensischen Palynologie vorgetragen haben, unter anderem Dallas Mildenhall aus Neuseeland. Ihn haben wir zu einer Gastprofessur nach Wien eingeladen, damit er uns den forensischen Aspekt der Pollenanalyse näher bringen sollte – für Pollen an sich waren wir Experten. Das hat er bei zwei Aufenthalten gemacht. Anschließend ging es für uns darum, selbst praktische Erfahrungen zu sammeln, Verbindungen zur Polizei aufzubauen, Fälle zu analysieren. Das ist – letztlich auch durch die Hilfe von Zufällen – gelungen, und bald gab es in Wien und Niederösterreich erste Fällen, bei denen wir beigezogen wurden. In Niederösterreich war das ein tragischer Fall, die in ein T-Shirt und Heu eingewickelte Leiche eines neugeborenen Mädchens. Wir sollten über die Analyse des Heus bei der Auffindung des Tatortes helfen. Der Fall wurde übrigens recht rasch aufgeklärt, es handelte sich um eine 15jährige, die unter sehr dramatischen Umständen dieses Kind geboren und danach erstickt hatte.

WWW: Erinnern Sie sich auch an den ersten Wiener Fall?

Martina Weber: Das war ein Fall, der bis heute nicht geklärt ist. Es handelte sich um die Leiche einer Prostituierten, die halb verbrannt und schlimm verstümmelt auf einem Radweg aufgefunden wurde. Das war die erste forensische Leiche, die ich und meine Kollegin Silvia Ulrich gesehen haben. Es war eine wichtige Erfahrung zu sehen, wie man in dieser Situation professionell „umschalten“ und in einer Leiche einfach nur ein „Beweisstück“ sehen kann.

WWW: Wie gehen Sie bei der Untersuchung eigentlich praktisch vor, was machen Sie mit den eingesammelten Proben?

Martina Weber: Wir sammeln zum Beispiel im Freiland von der Bodenoberfläche mit Handschuhen Proben ein, diese werden in Plastiksäckchen asserviert. Bei der Aufbereitung werden die Proben dann zunächst gewaschen. Die Flüssigkeit wird bei 3.000 Umdrehungen zentrifugiert, mehrfach, bis alle festen Bestandteile aus der Flüssigkeit isoliert sind. Dieses Material wird dann einer sogenannten Acetolyse unterzogen, einer Methode, die vom Pollenkorn alles entfernt, was nicht zur Pollenwand gehört, und die Pollenkörner braun einfärbt. Die so vorbereiteten Präparate werden dann lichtmikroskopisch untersucht. Jedes Pollenkorn wird registriert und identifiziert und in Zähllisten eingetragen, bis etwa 300 Pollenkörner. Damit erstellen wir ein sogenanntes Pollenspektrum, das uns zeigt, wie viele und welche Pflanzen vertreten sind. Mit einem solchen Spektrum kann man dann häufig Orte identifizieren, insbesondere, wenn bestimmte Markerpflanzen vorkommen. Wenn zum Beispiel eine bestimmte Kombination von Torfmoos, Besenheide, Sonnentau vorkommt, können wir daraus schließen, dass die Probe aus einem Moor oder aus Torf stammt.

MMM: Für seltenere Pflanzen braucht man vermutlich einen großen Fundus an Vergleichsmaterial, um sie identifizieren zu können?

Martina Weber: Viele Fragen lassen sich durch den Austausch mit erfahrenen Kollegen klären. Zudem betreiben wir in Wien die weltgrößte Pollendatenbank „PalDat“. Hier kann man anhand von Merkmalen vergleichbare Pflanzen finden und so die Suche weiter eingrenzen. Mit diesem Wissen können wir dann auch im Herbarium des Departments Vergleichsproben suchen, und so die Pflanze eventuell identifizieren. Unsere Datenbank, die seit 2000 online ist, steht Expertinnen und Experten weltweit zur Verfügung, die sich einerseits für Vergleichszwecke an den vorhandenen Daten bedienen können, und andererseits Bilder und Daten publizieren können.

MMM: Gehen Sie eigentlich selbst an die Tatorte oder bekommen Sie die Proben von den Tatortspezialistinnen und -spezialisten der Polizei geliefert?

Martina Weber: Wenn es möglich ist, gehen wir selbst zum Tatort, weil der botanische ein anderer Blick auf den Ort ist. Die österreichische Polizei ist diesbezüglich allerdings sehr gut geschult, im Tatortleitfaden für Polizistinnen und Polizisten ist beschrieben, wann es Sinn macht, Pollenproben zu nehmen, und wie man das macht. Daher gibt es auch in vielen Fällen, in denen wir selbst nicht vor Ort sein konnten, ausreichend gutes Material für eine Analyse. Die Proben an den Leichen werden von Gerichtsmedizinern entnommen, auch in unserem Beisein. Besonders relevant sind hier Proben aus dem Nasen-Siebbein, da bleiben viele Pollenkörner „hängen“ und die können uns viel über die letzten 40 Minuten eines Menschen sagen. So bekommen wir zum Beispiel wichtige Informationen ob der  Fundort eventuell auch der Tatort war. Da kann ich leider nicht alle interessanten Beispiele nennen, weil die Fälle zum Teil noch nicht abgeschlossen sind und Informationen daher nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Im Moment arbeite ich international an drei Cold Cases.

WWW: Kommt die Forensische Palynologie eigentlich auch jenseits von Tötungsdelikten zum Einsatz?

Martina Weber: Absolut, es geht bei unseren Untersuchungen bei weitem nicht immer nur um Leichen. Wir können zum Beispiel auch Lebensmittelbetrug nachweisen. Man muss sich vorstellen, dass Honig zu den am häufigsten gefälschten Lebensmitteln gehört, gemeinsam mit Milch und Olivenöl übrigens. Ein amerikanischen Kollege hat berichtet, dass von 2.000 Honigproben keine einzige ein korrektes Lable bezüglich der Herkunft trug. Ich habe mir einmal kroatischen Honig angesehen, der teuer als Rosmarinhonig von einer bestimmten Insel verkauft wurde, aber es war kein einziges Rosmarinpollenkorn enthalten, und auch keinerlei Vegetation von dieser speziellen Insel – ein klarer Etikettenschwindel. Und ich habe auch schon Honig vom Frühstücksbuffet eines amerikanischen Nobelhotels gesehen, in dem gar keine Pollenkörner zu finden waren.

Interview: Birgit Kofler

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