Matthew Blake: Anna O.
Wenn der Schlaf zum Abgrund wird
Geht es nach Schopenhauer, soll der Schlaf ja „der kleine Bruder des Todes“ sein. Kein Wunder, dass sich Krimis und besonders Medizinthriller gerne mit Schlaf und seinen Abgründen beschäftigen – auch wir haben hier im Blog schon Werke vorgestellt, die sich auf unterschiedlichste Weise mit dem Phänomen befassen, etwa von Marc Meller oder Christoph Elbern.
Matthew Blake ist mit seinem Debütroman „Anna O.“ ein psychologischer Thriller zum Thema Schlaf gelungen, der nicht nur durch eine packende Handlung, sondern auch durch interessante intertextuelle Verweise und sorgfältige Recherchen medizinischer und psychologischer Details überzeugt – eine Hommage an die Psychoanalyse und die Literatur, eine vielschichtige Analyse der Komplexität menschlicher Schuld, die auch noch spannend und unterhaltsam ist. Blake webt ein Netz aus Trauma, Verantwortung und wissenschaftlicher Ambition, das aktuelle gesellschaftliche Fragen zur Ethik in der Psychologie und Medizin und zu Machtverhältnissen in therapeutischen Beziehungen aufwirft. Die Geschichte überzeugt auch durch eine geschickte Verflechtung von psychoanalytischer Theorie und moderner Schlafforschung.
Im Zentrum des Romans steht Anna Ogilvy, eine junge ambitionierte Journalistin, die des Mordes an ihren beiden besten Freunden beschuldigt wird. Das Besondere: Die Morde soll Anna während einer Episode von Schlafwandeln begangen haben, danach fällt sie in einen tiefen, Jahre dauernden Schlaf. Vier Jahre nach den schrecklichen Ereignissen versucht der Psychologe Ben Prince, dessen Ex-Frau als Polizistin mit dem Mordfall befasst war, mit einer speziellen, von ihm entwickelten Methode die Schlafpatientin Anna aufzuwecken und den Fall zu lösen. Er begibt sich auf eine intensive Suche nach der Wahrheit, stößt dabei auf immer wieder neue Rätsel und kommt selbst unter Druck. Zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen die Grenzen, Leserinnen und Leser werden in ein Netz aus Lügen, Intrigen und dunklen Geheimnissen gezogen.
Hommagen an Freud
Schon der Titel „Anna O.“ ist ein deutlicher Wink in Richtung Sigmund Freud: Die historische Anna O. – Freud verwendete dieses Pseudonym für Bertha Pappenheim – war eine seiner psychoanalytischen Pionierpatientinnen. Ihr Fall ist in den „Studien über Hysterie“ von Freud und Josef Breuer dokumentiert – ein Verweis, den Blake geschickt durch den gesamten Roman webt. Der Autor spielt immer wieder gekonnt mit der Parallele, indem er seine Protagonistin Anna Ogilvy in einen modernen Kontext psychosomatischer Traumata stellt. Die ambivalente Rolle des Schlafs als Ort der Unschuld oder auch der möglichen Schuld erinnert an Freuds Konzept des Unbewussten. Dazu kommen andere Querverweise auf Freuds Theorien – etwa zur Traumdeutung, zur Verdrängung oder zur „Hysterie“. Interessant ist dabei nicht zuletzt, wie Blake aktuelle Fragen zur Behandlungsethik aufwirft und die historischen Bezüge mit modernen psychiatrischen Erkenntnissen verknüpft.
Aber nicht nur Freunds Werk ist im Thriller präsent, Blake verwendet auch literarische Zitate und Verweise, etwa auf Truman Capotes True-Crime-Story „Kaltblütig“, die als subtile Kommentare zur Handlung fungieren. Diese literarischen Verweise unterstreichen Blakes Ambition, den Thriller zugleich als Reflexion über Schuld, Erinnerung und die Macht der Erzählung zu inszenieren.
Die Hauptfiguren sind komplex und überzeugend gezeichnet. Ben Prince’s innerer Konflikt zwischen wissenschaftlichem Ehrgeiz und moralischen Bedenken wird nuanciert dargestellt. Anna Ogilvy gewinnt insbesondere durch ihre Tagebucheinträge und die Rückblenden erstaunliche Präsenz. Die düstere, beklemmende Atmosphäre wird durch präzise Beschreibungen und authentische Dialoge unterstützt. Kritisch ließe sich anmerken, dass einige Figuren, etwa Annas Mutter oder Bens Ex-Frau Claire, etwas blass bleiben.
Medizinische Präzision und narrative Experimente
Blakes Recherchen zu schlafmedizinischen und psychiatrischen Themen sind durchaus beeindruckend: Das „Resignationssyndrom“ – eine reale, mysteriöse Erkrankung, die vor allem bei traumatisierten Kindern mit Fluchthintergrund beobachtet wurde – wird ebenso präzise beschrieben wie der Umgang mit Komapatient*innen. Realitätsgetreue medizinische und psychologische Details verleihen dem Plot Glaubwürdigkeit. Fiktion und Wirklichkeit liegen doch manchmal sehr nahe beieinander.
Überzeugend finde ich auch die Erzählstruktur. Blake experimentiert gekonnt mit verschiedenen narrativen Ebenen und Textformen. Er mischt Aktenvermerke, Wikipedia-Einträge, Tagebucheinträge, wissenschaftliche Aufsätze und klassische Prosa. Die Haupthandlung wird aus der Perspektive des Psychologen Prince in der ersten Person erzählt, während andere Charaktere in der dritten Person oder durch persönliche Dokumente wie Tagebucheinträge zu Wort kommen. Dieser vielfache Perspektivenwechsel ist gelegentlich gewöhnungsbedürftig, schafft aber Spannung, ermöglicht es, Anna sowohl aus der Außen- als auch aus der Innensicht zu betrachten und erweist sich als effektives Mittel, um die verschiedenen Wahrheitsebenen der Geschichte zu transportieren. Die geschickte Verflechtung der Erzählstränge spiegelt letztlich auch die komplexe Struktur des menschlichen Bewusstseins wider – ein Kunstgriff, der die thematische Ebene des Romans unterstützt. Durch kurze Kapitel und einen intensiven Schreibstil wird eine dichte Atmosphäre geschaffen.
Die deutsche Übersetzung von Andrea Fischer trifft größtenteils den richtigen Ton, wirkt an manchen Stellen allerdings etwas hölzern. Generell gelingt es ihr aber durchaus, die dichte Atmosphäre und die psychologische Tiefe gut wiederzugeben.
Die langsame Entwicklung der Handlung ist wohl nichts für Leserinnen und Leser, die schnelle Action erwarten. Doch genau diese oft nahezu bedächtige Erzählweise passt zum Thema und scheint mir der Geschichte gut anzustehen. Wie Anna im mysteriösen Tiefschlaf liegt auch die Wahrheit lange im Dunkeln, bis sie sich Stück für Stück enthüllt. Die überraschenden Wendungen im Finale – einschließlich der Auflösung von Annas Schuldfrage – entschädigen fürs Durchhalten.
Alles in allem ist „Anna O.“ für mich mehr als ein Thriller – es ist ein Roman über die Abgründe der menschlichen Psyche, erzählerisch ambitioniert und packend wie ein Krimi. Blake gelingt mit der überraschenden Grundidee, den Freud-Referenzen, der medizinischen Akribie und der speziellen Erzählweise ein herausragendes Debüt. Wer bereit ist, sich auf die komplexe Struktur einzulassen, wird mit einer Geschichte belohnt, die nachwirkt.
Fazit: „Anna O.“ ist ein anspruchsvoller psychologischer Thriller, der weit über die Grenzen des Genres hinausgeht – ein kluger, vielschichtiger Pageturner, in dem Schlaf zum Abgrund wird.
Zum Autor
Matthew Blake studierte Anglistik an der Durham University und am Merton College in Oxford und arbeitete als Rechercheur und Redenschreiber für das britische Parlament. Als er hörte, dass der Mensch im Durchschnitt 33 Jahre des Lebens schlafend verbringt, begann er zum Thema „Schlaf und Verbrechen“ zu recherchieren – auch über das mysteriöse Resignationssyndrom. Was ihn unter anderem zur brisanten Frage führte: Wenn jemand beim Schlafwandeln einen Mord begeht, ist er dann schuldig oder unschuldig? Die Idee zu „Anna O.“ war geboren. Der Roman erschien in mehr als 30 Ländern weltweit.