Patrick Illinger: Cortex
Mit „Cortex“ ist Patrick Illinger ein rasanter und hochaktueller Medizinthriller gelungen, der nicht nur detailreich und präzise recherchiert, sondern auch zügig und spannungsreich erzählt ist. So sehr viele der Elemente nach gruselig erdachter Science-Fiction klingen, so wenig sind sie es: Xenotransplantation, künstliche Mini-Gehirne – solche Entwicklungen sind längst Realität. Wie Patrick Illinger sie verwebt, kombiniert und an die Spitze treibt, unterhält nicht nur, sondern macht auch nachdenklich: Welche ethischen Schranken muss es geben, um inhumane und gefährliche Auswüchse wissenschaftlicher Potenziale zu verhindern?
Rasante Geschichte
Star-Reporterin Livia Chang ist eigentlich für die New York Times in Italien als Korrespondentin stationiert. Als in Atlanta ein Flugzeug unter höchst mysteriösen Umständen abstürzt, ist aber ihre Kompetenz in den USA gefragt und sie wird von ihrem Chefredakteur auf die Recherche angesetzt. Aus gutem Grund, denn sie gibt sich nicht mit dem ersten Augenschein zufrieden. Eine mehr als verdächtige Hautprobe von einem im Absturzgebiet gefundenen gruseligen Arm, die sie im renommierten Broad Institute in Massachusetts analysieren lässt, und ein von diesem Institut verschwundener Forscher führen die Reporterin auf eine Spur in Honduras. Dort wirbelt eine Serie brutal ausgeführter Morde an Angehörigen gefährlicher Drogenkartelle eine Menge Staub auf. Gemeinsam mit Nuri Zamiro, den sie im Labor des Broad Institutes kennen gelernt hat, stößt Livia Chang im Zug ihres immer gefährlich werdenden Recherche-Trips, der sie nach Zentralamerika, nach Bayern und nach China führt, auf ein geheimes Forschungslabor, auf Xenotransplantations-Experimente, auf höchst aggressive Oktopusse und außer Kontrolle geratene Versuche an Gefangenen. Zudem muss sie sich mit einem chinesischen Magnaten auseinandersetzen, der sie für seine Zwecke einspannen will und mit ihrer Familie erpresst. Nach und nach kommen Livia und Nuri einem ungeheuerlichen Komplott auf die Spur. Während sie versuchen, mehr Unheil durch die gewissenlose Forschung zu unterbinden und zudem einen Anschlag auf höchster politischer Ebene zu verhindern, geraten sie selbst in massive Gefahr. Die Macht der Wissenschaft und die Potenziale, die sich nicht nur für Fortschritt und neue Behandlungsoptionen nutzen lassen, sondern auch Terroristen gelegen kommen könnten, zeigt dieser Thriller hervorragend und kurzweilig auf.
Realer Hintergrund
Ein Anstoß zu dieser Geschichte, berichtet Patrick Illinger, sei für ihn der Besuch in einem Max-Planck-Institut gewesen, in dem er menschliche Gewebezüchtungen sehen konnte, genauer Gehirnorganoide – also Mini-Gehirne aus Stammzellen, die künftig für die Erforschung von Erkrankungen und Therapien dienen sollen. Wie realistisch das Szenario aus „Cortex“ ist, beurteilt der Wissenschaftsjournalist so: „Noch ist diese Forschung am Anfang. Und das Szenario in Cortex ist fiktiv. Aber die Fortschritte sind gewaltig und ethische Grenzen werden unweigerlich berührt.“ Schließlich sei gezüchtetes menschliches Gehirngewebe bereits in Tiere verpflanzt worden, mit erstaunlichen Ergebnissen, so Illinger. „Was, wenn man noch weiter geht? Eines habe ich gelernt als Journalist: Grenzen werden irgendwann überschritten. Vielleicht nicht in Deutschland, vielleicht nicht in staatlich finanzierten Laboren, aber geforscht wird auch an anderen, oft obskuren Orten.“
Gekonnte Umsetzung
In „Cortex“ erfindet Illinger keine erschreckende neue Wissenschaftswelt. Er entwickelt nur bereits existierende und publizierte Forschungsansätze etwas weiter, und befördert uns damit in ein schockierendes Bedrohungsszenario. Der Plot ist sehr professionell entwickelt, die verschiedenen Handlungsstränge bieten jede Menge Cliffhanger und werden ohne logische Brüche miteinander verwoben und zueinander geführt. Dass Illinger mit Livia Chang eine starke, selbstbewusste Frau zur Thriller-Heldin macht, ist gewinnend – schließlich gibt es mehr als genug männlicher Protagonisten im Genre. Dass sie als Superheldin ausgestattet ist, scheint mir unnötig übertrieben – aber vermutlich wären sich sonst einige Szenen nicht ausgegangen, in denen sie wahre Superkräfte braucht, um voranzukommen. Insgesamt aber: Unbedingte Leseempfehlung: Hier finden gut recherchierte Wissenschaft, raffinierte Spannung und gekonntes Erzählen hervorragend zusammen.
Patrick Illinger. Cortex. Piper Verlag, München 2023, ISBN 978-3-492-06317-3
Über den Autor:
Patrick Illinger, geboren 1965, forschte am Europäischen Forschungszentrum CERN über Antimaterie, bevor er sich dem Journalismus und dem Schreiben widmete. 1997 wurde Patrick Illinger leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, wo er zunächst die Online-Redaktion aufbaute. Zwischen 2002 und 2020 leitete er das Ressort „Wissen“. Zudem leitete er von 2004 bis 2008 die Redaktion des Wissens-Magazins SZ Wissen der Süddeutschen Zeitung. Seit September 2020 koordiniert er die Wochenendausgabe der SZ.